Texte über Kunst

Der Anti-Trendsetter (2020)

Trotz aller inflationärer Kunstproduktion gibt es wahrscheinlich recht wenig wirkliche Kunst. Wirkliche Kunst? Gleich seelenvolle Kunst, Kunst ohne Kompromisse. „Was ist das für ein althergebrachter Kunstbegriff?“ mag sich der Trendsetter fragen – und wird damit Recht haben.
Ohne Seele keine Stele.

Ohne Begriff kein Pfiff.
Ohne Alter kein Psalter.
Ohne Verwalter kein Schalter.
Ohne Schlachthaus keine Haftpflichtversicherung.
Ohne Spekulanten keine Umwelthilfe.

 

Der Anti-Trendsetter
Die neue Unübersichtlichkeit, die neue Nicht-Offensichtlichkeit

 

Natürlich ist es nicht neu, dass wir von Bildern überflutet werden. Natürlich ist es nicht neu, dass eine Auswahl aus den Bildern Not täte, aber kaum geleistet werden kann. Es ist auch nicht neu, dass diese Auswahl gar nicht geleistet werden soll, im Gegenteil die Übersichtslosigkeit zu einer gewollten Abwesenheit von Orientierung beiträgt. Am Warenangebot soll man sich ausrichten, nicht an Aufklärung. Am Glauben soll man sich ausrichten, nicht am Wissen, nicht an „überheblicher“ Pachtung von Wahrhaftigkeit. Am Fühlen soll man sich ausrichten, nicht am Denken, nicht an „investigativ zusammengestoppelten“ Nachrichten, die sowieso schnell wieder vergessen werden. Nicht an inhaltlichem Potential, sondern nach pekuniärer Effizienz soll sich verbliebene Aufmerksamkeit ausrichten.
Es wird in der Kunst eine Evidenz, eine Offenkundigkeit reklamiert. Eine Evidenz, eine Offenkundigkeit wovon? Isolierte künstlerische Parameter ohne Inhalt kann man schwierigkeitslos kennzeichnen und benennen (Farbe, Form, Linie, etc.), nicht aber eine analytische Befragung einer Wirklichkeit ohne Komplikationen durchführen oder nur anpeilen. Denn Bilder sind weder eindeutig, noch diaphan zu einem Kern führend.
Je mehr Unsicherheit politisch herrscht und gesät wird, desto gewichtiger werden die Vorspiegelungen von Dominanz und Selbstsicherheit. Befragung, gar Zweifel, haben ausgedient. Verständlich ist die Oberfläche, nicht die Vielfalt. Auch das ist Magie: der Glaube an den Erfolg des sich als erfolgreich Inszenierenden. Der jahrhundertelang eingeimpfte Autoritätsglaube will latente Installation einer faschistischen „Ordnung“ – und der laute Blender gewinnt die Oberhand. Er wird landläufig als Charismatiker bezeichnet.
Wenn die Welt als unübersichtlich gilt, kann sich doch die Kunst nicht mit simplen Lösungen zufrieden geben, eskapistisch, illusionär. Einfache Lösungen ausgebend, so wie es die Aushöhler der westlichen Demokratien tun, die sich als autokratische Herrscher installieren. Auch Digital Natives malen noch, wird gesagt, aber ihre Sicht- und Denkweise bleibt überschaubar, marktgängig. „Die Komposition wird übersichtlicher“, sagt die Kuratorin der Ausstellung „Art looks much better on Instagram“ im Museum der Bildenden Künste Leipzig. Kein Wunder.

Alles Sichtbare mag nur ein Gleichnis oder sogar belanglos sein ohne Hintergründe, ohne Konnotationen, die mit der Sichtbarkeit der Sache eigentlich nichts zu tun haben. Ein Haus ist ohne seine Geschichte nichts als ein belangloses Haus. Eine Gegend nichts als eine nichtssagende Landschaft, eine Siedlung nichts als eine beliebiger Ort – mit ihrer Geschichte und ihren generationsübergreifenden Erfahrungen aber werden sie zu Orten des Lebens und des Schicksals. Vielleicht muss man den Dingen sogar die Möglichkeit einer „reinen Schönheit“ absprechen, da die Schönheit nur durch ein Verhältnis zu den Dingen erfasst werden kann. Und doch kann uns das Sichtbare durch einen Kanal in ein Land bedingungsloser Schönheit führen. Es kann uns durch einen Kanal der Projektion zu begehrenswerter Schönheit führen, der wir habhaft werden möchten, die wir aber letztlich verfehlen und unter Umständen mit unserem eigenen Verlangen verwechseln. An die Schönheit keinerlei Anspruch zu stellen, ja den Einbezug des Hässlichen in ihre Gefilde zu bejahen, das hieße, grenzüberschreitende Weisheit erlangt zu haben. – Ob sie uns verleitet oder erhöht: in jedem Fall baut sich Schönheit immer in einer atmosphärischen Spannung auf, die wiederum zu einem eigenen Pathos, zu Leidenschaft und Leidensfähigkeit führt.

Für die krasseste Selbstüberschätzung werden die rationalsten Argumente ins Feld geführt. Für die grassierendste Geltungssucht wird die kompatibelste Nutzbarmachung bescheinigt. Wir sitzen dem Schein also in jedem Fall auf. Vielleicht gründet darauf das Urbedürfnis nach Religion, nach einer höherstehenden objektiven Instanz, die uns von der Verfallenheit und dem Irrtum erlöst. Da unsere ethische Verlässlichkeit aber nur sehr unzulänglich ist, hat man, vor dem rückschrittlichen Dictum, dass der Mensch Gottes Ebenbild sei, den Göttern Tiergestalt gegeben, um sie der moralischen Unzulänglichkeiten zu entheben und sie mit unmittelbarerer Stärke und universellerer Kraft auszustatten. Man rückt so einer numinosen Erhabenheit um ein gutes Stück näher ohne vor einer unvorstellbaren Abstraktion monotheistischer Unfassbarkeit zu stehen. Und die Realität wird erweitert, eine dichtere Sphäre verbindet Sichtbares mit Unsichtbarem, Unfassbares mit Fassbarem, Phantastik und Rationalität, Defizit und Kontemplation.
Nichts ist, was es zu sein scheint. Die Dinge aus der Zeitgenossenschaft heraus zu betrachten, ist unumgänglich. Auch wenn die Entwicklungen immer schneller über einen hinwegzufegen scheinen, hat man doch unfreiwillig oder gewählt, den Vorteil der Abstandsmöglichkeit zum Getriebe (der Welt) immer schon schätzen gelernt.
Die Schönheit einer Sache, sowohl als die Sache selbst, kann man einerseits nur mit Abstand erfassen. Schönheit und Hässlichkeit haben keine große Entfernung voneinander mit dieser Art von Abstand, der eine analytische und synthetische, also auflösende und zusammenfassende Betrachtung ermöglicht. Die Zeitspanne, die das aber benötigt, ist ausschließlich durch eine Transzendierung der Dinge (zum Beispiel durch künstlerische Auseinandersetzung) zu erreichen. Die situative Erfassung hat andererseits diese Zeitspanne nicht, mangelt aber dank der Potenz sämtlicher Sinne keineswegs an Tiefe. Im Gegenteil: mit Sicherheit ist das erste Erfassen das Einschneidendste, der erste Eindruck doch der elementarste. Denn der verweilende Augenblick kann, je ersehnter er ist, desto flüchtiger sein.
Wenn man eine Sache, einen Sachverhalt, verstanden hat, kann er nur insofern kränkend sein, als man ihn mit eigener Zurücksetzung verbindet, was der Sache an sich – sie aus anderer Perspektive zu betrachten wäre schon hilfreich - nicht gemäß sein kann. (Abgesehen von Dingen, die ausschließlich als Kränkung konzipiert werden.)
Aber da wird man nur unergiebig auf der Stelle treten. Deshalb wieder zur Arbeit, die immer komplexe Aufgaben zur Bewältigung bereitstellt („mach es einfach fertig!“). Sobald man anfängt, drängen sich türmende Hindernisse zu einfachen Lösungen, die aber den Um- und Irrweg immer mit anziehen müssen, weil einfache Lösungen erst nach langwierigen Berganstiegen allmählich in Reichweite geraten. Im Grunde sind also einfache Lösungen nicht einfach, auch wenn sie am Ende so in Erscheinung treten mögen. Am Ende ist eine Lösung einfach, weil sie einem plötzlich zufällt, meist dann, wenn lange Zeit gar keine Lösung in Sicht war und man glaubte, dort, wo eine sich abzeichnen könnte, niemals hin zukommen sei.
Ein so als hoffnungsfroh erachteter Ort verschwindet im Gewirr der prozesshaften Wanderung rückstandslos aus einer Landschaft ohne Orientierungsmarken. Das Thema ist nicht vergessen, aber verblasst, der vermeintliche Sinn zerstoben. Wie wenn die Wetterbedingungen sich verschleiert hätten. Der aussichtslose Antrieb zur Weiterbewegung führt letztlich aber zur Lichtung des Nebels, zum Durchbruch der Wolkendecke. Aussichtslosigkeit wird nichtig, die bildimmanente Thematik taucht aus dem Nichts auf wie eine Erscheinung, die man in dieser Dichte bisher nicht vor sich hatte. Sie übertrifft das theoretische Konzept an unmittelbarer Kraft und unanschaulicher Tiefe. Das heißt, es gibt eigentlich keine offensichtliche „Verbesserung“ des Bildes, aber dessen atmosphärische Dichte ist erhöht worden.
Im Grunde arbeiten wir mit unsichtbaren Dingen: Lüge, Verrat, Heuchelei, Korruption, Aufhetzung oder auch dem Gegenteil: Wahrheit, Loyalität, Treue, Ehrbarkeit, Gewaltfreiheit, was ebenfalls einer unsichtbaren Sphäre zuzuweisen ist. Das Bild ist deshalb erst tauglich, wenn es zwar einfach erscheint, durch Verdichtung aber ambivalent und geheimnisvoll wirkt. Dann erst hat es die Qualität, um mit der Frage nach der Realität in Relation zu treten und in diesem Verhältnis seine eigene Aussage zu gewinnen, die im Bildnerischen und nicht im Verbalen liegt. Die Substanz eines Bildes sollte am ehesten noch mit musikalischen Qualitäten vergleichbar sein. Hinter einer materiellen Wand – ein Raum, der sich auftut: Leidenschaft, Lebenslust, Melancholie, Wildheit – und das Konkrete, das sich immer wieder entzieht (oder sich gar ins Gegenteil wendet).

© Harald Kille, 2020